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Jahreskonferenz 2018 des Netzwerks Verbraucherforschung – Vom industriellen Massenkonsum zum individualisierten Digitalkonsum?

Auf Einladung des Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) nahm ein Vorstandsmitglied des Deutschen Verbraucherschutzvereins e.V. an der Jahreskonferenz 2018 des Netzwerks Verbraucherforschung in Berlin teil.

Das bundesweite Netzwerk Verbraucherforschung, angesiedelt im BMJV, ist ein interdisziplinär ausgerichteter Verbund von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die durch fundierte wissenschaftliche Arbeiten evidenzbasierte Verbraucherpolitik ermöglichen möchten. Diese Vielfalt widerspiegelnd nahmen an der diesjährigen Jahrestagung Vertreter der verschiedensten Wissenschaftsrichtungen wie etwa Kunst- und Kulturwissenschaftler, Historiker, Sozialwissenschaftler und Juristen teil.

Mit seinen einführenden Worten machte der Sprecher des Netzwerks, Herr Prof. Dr. Peter Kenning, das Anliegen der Konferenz deutlich, einen etwas weiteren Bogen über das Thema der Verbraucherforschung spannen zu wollen, um bestimmte aktuelle Entwicklungen in einen historischen Kontext stellen zu können. In diesem Sinne befasste sich daher zunächst Prof. Dr. Wolfgang König im Hauptvortrag mit der „Genese und Zukunft der Konsumgesellschaft“.

Prof. König machte es sich zunächst zur Aufgabe, den Begriff der Konsumgesellschaft als ein zentrales Gesellschaftsmerkmal zu skizzieren, wie es sich nach dem zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland herausgebildet hat. Er ordnete dem Konsum eine materielle wie auch mentale Seite zu, wobei es ihm darauf ankam, dass die Konsumgesellschaft nicht abgehoben von der Arbeitsgesellschaft begriffen werde, sondern die Beziehungen zwischen Konsum- und Arbeitsgesellschaft vielmehr als ein komplexes Verhältnis zu verstehen sind. Dabei mag es zu einer Schwerpunktverschiebung gekommen sein, nicht aber zu einem Prozess der völligen Ablösung.

Anschließend befasste sich Prof. König mit den beiden zentralen materiellen Voraussetzungen der Konsumgesellschaft, nämlich der (disponiblen) Zeit, die nicht bei der Arbeit verbracht wird und für Konsumhandlungen zur Verfügung steht und dem (disponiblen) Geld, das als Einkommen nach Erfüllung der Grundbedürfnisse nach Ernährung, Kleidung und Wohnung noch verfügbar ist. Soweit in diesem Sinne Zeit und Geld vorhanden seien und Möglichkeiten des Konsumierens eröffnen würden, müsse sich aber weiter damit auseinander gesetzt werden, in welcher Art und Weise diese genutzt werden und warum Menschen überhaupt konsumieren.

Hierzu wandte sich Prof. König gegen die zwei gängigen Erklärungsmuster als erstens der Ideologie einer totalen Manipulation des Konsumenten und zweitens der Ideologie der unbeschränkten Konsumentenfreiheit. Er legte Wert auf die Feststellung, dass sich Konsumhandlungen in einem durch Bedürfnisse und Wünsche sowie durch Kaufanreize gebildeten sozialen Raum abspielen – Konsum stelle sich als ein Interaktionsprozess zwischen Produzenten und Konsumenten dar, wobei zwischen diesen beiden noch zahlreiche sonstige Mediatoren (Werbeagenturen, Verbraucherorganisationen, Aufsichtsbehörden etc.) aktiv sind.

Zum weiteren Schwerpunkt seines Vortrags, der „Expansion und Akkumulation des Konsums“, zeichnete Prof. König die Entwicklung von der Selbst- über die Marktversorgung nach, in der sich Orte und Prozesse des Konsums vom Wochenmarkt, den Tante-Emma-Läden über Kaufhäuser, dem Versandhandel hin zu Supermärkten, Shopping-Malls bis – aktuell – zum Internethandel veränderten. Allerdings gehe mit den neuen Verkaufsformen mehr denn je die Frage einher, wie sich die Konsumgesellschaft zukunftsfähig machen lasse.

Dabei würde sich die Frage stellen, wie einerseits Verbraucher vor ungerechtfertigten Produktangeboten und Vertriebsmethoden und andererseits Gesellschaft und Umwelt vor Verbrauchern geschützt werden können. Als Instrumente einer zukunftsfähigen Konsumpolitik benannte Prof. König vor allem ordnungspolitische Maßnahmen sowie eine Verteuerung schädlicher Konsumhandlungen durch Steuern und Abgaben. Insofern sprach er sich für eine verstärkte Steuerung des Konsumverhaltens über dessen Kosten aus. Zugleich plädierte Prof. König für eine notwendige höhere Verantwortung des Konsumenten.

Abschließend wandte sich Prof. König noch der vieldiskutierten Frage der Grenzen der Konsumgesellschaft zu. Diese sehe er zunächst als durchaus bei den zentralen Voraussetzungen der Konsumgesellschaft, also Zeit und Geld, gegeben. Dabei sei fraglich, ob sich die disponiblen Einkommen in den hochentwickelten Ländern weiter erhöhen werden. Zudem bestünden für eine Reduzierung der Arbeitszeit absolute und ökonomische Grenzen. Zugleich dürften sich Begrenzungen auf globaler Ebene vorrangig bei der Belastbarkeit der Umwelt ergeben. Nach allem laute die große Frage des 21. Jahrhunderts, ob es möglich sei und gelinge, eine nachhaltige Konsumgesellschaft zu kreieren.

Im Anschluss an den Hauptvortrag setzte sich die Konferenz im Panel 1 „Zwischen Emanzipation und Disziplinierung“ mit den „Folgen der Quantifizierung in digitalen Konsumräumen“ auseinander.

Hierzu beschäftigte sich zunächst Prof. Dr. Steffen Mau in seinem Vortrag „Auf dem Weg in die Scoringgesellschaft? Über den  Umgang mit digitalen Statusdaten“ mit der wachsenden Bedeutung von Scoringverfahren zur Bewertung und Klassifikation von Personen. Dabei ging es ihm nicht darum, einzelne Technologien oder Algorithmen zu bewerten, sondern die gesellschaftlichen Effekte des Scorings zu hinterfragen.

Prof. Mau ließ zunächst deutlich werden, dass sich zwar vor allem in China, aber auch in westlichen Gesellschaften die digitalen Bewertungssysteme auf dem Vormarsch befänden. Exemplarisch konnte er zum einen auf das breit diskutierte chinesische Social-Credit-System und zum anderen auf in den USA im Rahmen der Sozialhilfe bereits etablierte Scorings sowie in den Niederlanden geplante Punktesysteme in der Arbeitsmarktpolitik verweisen. Aus eigener Erfahrung heraus nahm er zudem auf ebenfalls in den USA längst eingeführte Scoring- und Ratingverfahren bei der Ermittlung der Vertrauenswürdigkeit von Babysittern Bezug.

Scoringtechniken oder Scoringverfahren lassen sich als neuartige Techniken einer Klassifizierung beschreiben, die auf Differenzmessungen und spezifischen Arten von Bewertungen aufgebaut sind (der englische Begriff „score“ bedeutet Punktestand und „scoring“ lässt sich als Punktwertermittlung übersetzen). Durch einen numerischen Punktestand  lassen sich bestimmte Dinge als besser oder schlechter, mehr oder weniger, auch als oben und unten verstehen, womit eine Rangfolge und Hierarchie einhergehen. Scoren lassen sich in diesem Sinne Gesundheit, Vertrauen, Risiko, Aktivitäten, Popularität, politische Loyalität, Mobilitätsverhalten, Rentabilität, Bonität usw. Besonders angesagt sind Scoringverfahren im Bankwesen, in der Versicherungswirtschaft, aber auch in gesundheitlichen Angelegenheiten, dem Wohnungsmarkt, dem Mietwagensektor wie auch bei der Personal- und Partnerauswahl – Antrieb ist jeweils der Versuch, über eine Vielzahl von Informationen, die sich digital bestens verarbeiten lassen, Vergleichsmöglichkeiten zu schaffen und im Wesentlichen eine Risikokalkulation vorzunehmen.

Unter Bezugnahme auf Fourcade und Healy (2017) könne im Ergebnis von einer auf Daten beruhenden Kapitalform ausgegangen werden, in welcher Informationen über Individuen gespeichert würden und dann dazu genutzt werden können, Personen zu klassifizieren und zu bewerten, womit letztlich über die Zuteilung von Markt- oder Lebenschancen entschieden wird; so werde beispielhaft eben in der Regel derjenige mit den meisten zu vergebenden Punkten mit der Beaufsichtigung eines Babys beauftragt. In der Folge verdeutlichte Prof. Mau die soziale Funktionsweise von Scorings weiter anhand etlicher Beispiele, wie den Credit-Scorings von Banken oder auch dem Gesundheitscoring.

Beobachten lasse sich, dass bestimmte Arten von Bewertungspraktiken im sozialen bzw. gesellschaftlichen Bereich vorrangig bei der Bewertung von Individuen, aber auch von Dienstleistungen, Produkten oder Unternehmen Anwendung finden. Ausdrücklich und insofern problematisierend verwies Prof. Mau auf das Ergebnis erster Studien in den USA wie jener von Virginia Eubanks (2018), wonach auf der Grundlage – im Bereich der Sozialhilfe – eingesetzter neuer Scoring-Systeme davon erfasste Personen in ganz unterschiedlichen Gesellschaftsfeldern ausgeschlossen werden. Sie würden gemäß dem ermittelten Score keine Wohnung oder neuen Arbeitgeber mehr finden, wenn diese Informationen weitergegeben werden. Auf diese Weise entwickelten sich digitale Armenhäuser, wenn Personen systematisch aus unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen ausgeschlossen blieben.

Jedenfalls wollte Prof. Mau deutlich machen, dass sich mit dem Voranschreiten von Scoring-Verfahren und der damit verbundenen Nutzung messbarer, quantifizierbarer Aspekte neue Formen einer statusbezogenen Klassifizierung ergeben können. Vor diesem Hintergrund gelangte er zu dem Schluss, dass es daher einer breiten gesellschaftlichen Diskussion bedürfe, um sich darauf zu verständigen, wie weiter, insbesondere auch aus ggf. regulatorischer Perspektive, verfahren werden soll.

Die mit der fortschreitenden Digitalisierung verbundenen Erscheinungsformen des Profilings, Scorings und statistischer Big-Data-Muster führen in der Konsequenz zu der Frage, ob und inwiefern diese Mechanismen einer Quantifizierung von Persönlichkeitsmerkmalen den Menschen zu einem Informationsobjekt degradieren und dadurch letztlich die Menschenwürde verletzen. Dieser herausfordernden Betrachtung nahm sich sodann Prof.Dr. Alexander Roßnagel im Panel 1 in seinem Vortrag „Quantifizierung der Persönlichkeit – aus grundrechtlicher und datenschutzrechtlicher Sicht“ an.

Prof. Roßnagel erinnerte zunächst daran, dass sich in entwickelten Gesellschaften bereits seit langem auf bestimmte Formen verständigt wurde, Personen zu erfassen und von anderen in bestimmten Zusammenhängen unterscheiden zu können. Diese bereits etablierten Erscheinungsformen der Quantifizierung erfolgen, um Menschen zu identifizieren, ihre Entscheidungen zuzuordnen oder sie zu bewerten und in bestimmte Kategorien einzuordnen. Weitestgehend anerkannt sind insofern bestimmte Formen der Identifizierung, sei es mittels Vor- und Nachnamen oder der Repräsentation durch Zahlen in mehr oder minder bürokratischen Zusammenhängen. Als generelle Identifikationsmuster gelten so beispielhaft Personalausweis und Pass. Vielfach werden allein Nummern – etwa als Personalausweisnummer, Kunden-, Personal- oder auch Rentenversicherungsnummer – eingesetzt. Einen Schritt weiter wird gegangen, wenn darüber hinaus Eigenschaften von Menschen durch eine Zahl repräsentiert werden, also Qualität durch Quantität ausgedrückt wird. So hat sich in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen auch eine derartige Quantifizierung von Eigenschaften durchgesetzt, so dass beispielhaft Entscheidungen aufgrund von Schulnoten und Abiturzeugnissen (von Hochschulen) sowie ermittelten Credit-Scores (von Banken) getroffen werden.

Aufgegriffen wird diese offenbare Akzeptanz in bestehenden Zuordnungs- und Auswahlprozessen neuerdings, so Prof. Roßnagel, wenn die Anzahl von „Likes“ oder bestimmte körperliche Messwerte veröffentlicht werden. In größeren Zusammenhängen mag es darum gehen, individuelles und kollektives Verhalten vorhersagen zu können und Wissen über andere Menschen dazu zu nutzen, deren Verhalten zu steuern. Möglichst viele Daten zu sammeln, auszuwerten, in Persönlichkeitsprofile zu integrieren und sie in einzelnen Zahlenwerten zusammen zu fassen, kann die Grundlage dafür bilden, bestimmte und möglichst automatisierte Entscheidungen, sei es durch Wirtschaftsunternehmen oder auch durch Staaten, treffen zu können. Beeinflusst würde dadurch nach dem Bekanntwerden von Entscheidungen im Wege einer Orientierungsrelevanz auch indirekt das Verhalten von Menschen im Sinne der verantwortlichen Stellen.

Je weiter diese Formen eines (verdeckten) Machtausbaus und der Machtausübung in alle Gesellschaftsbereiche eindringen, desto ernster stellt sich nach Prof. Roßnagel die Frage, inwieweit sich dadurch die Verwirklichungsbedingungen von Freiheit und Gleichheit verändern können. So untersuchte Prof. Roßnagel dazu in der Folge schwerpunktmäßig die näher zu betrachtenden Themen „Qualifizierung durch Quantität“, „Profiling und Scoring“, „Quantifizierte Entscheidungen“ und „Quantifizierte Verhaltenssteuerung“, ehe er zu diesen Untersuchungsthemen einzelne Ergebnisse und rechtspolitische Schlussfolgerungen wie folgt näher zusammenfasste.

So fordere die Menschenwürde den Schutz vor einer Verwandlung des Menschen zum reinen Informationsobjekt, dessen Leben Informationslieferant für die unbegrenzte Verhaltenssteuerung ist. Die zunehmende Transparenz des Menschen gegenüber den großen Datenverarbeitern und die steigende Intransparenz der Datenverarbeitung verstärken die soziale Machtasymmetrie. Letztlich gefährde eine derartige Informationsmachtbildung die Demokratie. Der Schutz von Menschenwürde und Demokratie gebietet klare – demokratisch legitimierte – Grenzen für die Verarbeitung personenbezogener Daten.

Die Quantifizierung der Persönlichkeit durch Profiling und Scoring gefährdet die Selbstbestimmung und Selbstentfaltung der Menschen, so dass spezifische Regeln für legitime Zwecke, Umfang, Verwendung und Qualität von Profilen und Scores erforderlich sind und dies unabhängig davon, ob Entscheidungen automatisch oder von einer Person getroffen werden.

Profiling, Scoring und statistische Musterbildung verstärken und erzeugen neue soziale Ungleichheiten. Weder durch technische, ggf. selbstlernende Systeme noch durch private Verantwortliche dürfe entschieden werden, welche Differenzierungen erwünscht sind und welche Diskriminierung unterbleiben soll. Insoweit es sich dabei um eine gesellschaftsrelevante Frage handelt, haben darüber legitimierte soziale Instanzen zu entscheiden. Festzulegen sei, wo das Verursacherprinzip mit der Folge der Individualisierung oder wo das Solidaritätsprinzip mit der Folge des Verzichts auf personenbezogene Daten gelten soll.

Mit Profiling, Scoring und statistischen Mustern werden die Entscheidungsfreiheit der Menschen und die Willensbildung in einer demokratischen und freien Gesellschaft gefährdet. Zu deren Schutz sind Regelungen erforderlich, die ein unerwünschtes gezieltes Nudging (das aus der Ferne und ggf. automatisierte Setzen von Informationsimpulsen zur Beeinflussung der individuellen Willensbildung) und eine indirekte Verhaltenssteuerung durch statistische Methoden kontrollieren und verhindern. Eine Einschränkung der Grundrechte durch die Quantifizierung der Persönlichkeit ist nicht akzeptabel.  

Im Anschluss daran nahm sich die Konferenz im Panel 2 der „Lebensstile, Bekenntniskultur und Warenästhetik“ unter der Fragestellung „Neue (digitale) Konsumwelten?“ an. In diesem Rahmen referierten Prof. Dr.  Wolfgang Ullrich zum Thema „Demonstrativer Konsum im Social Web“ und Prof. Dr. Andrea Gröppel-Klein zu„Von ´Mental maps´ zur Aktivierung – was ärgert und fasziniert Konsumenten am Point-of-Sale?“

Das nachfolgende Panel 3 stand unter dem Motto „Verbraucherverhalten, neue Ordnung der Gefühle, alte und neue Konsumgesellschaft“. Dr. Anne  Schmidt widmete sich darin dem Thema „Kalkül und Gefühl. Verbraucherführung in der Zwischenkriegszeit“ und Prof.  Dr. Gudrun König dem „Modus der Moderne. Die permanente Erfindung der Konsumenten“, ehe die Jahreskonferenz mit einer Podiumsdiskussion („Wissenschaft trifft Politik: Neuer Aufbruch, Neue Dynamik – auch für die Verbraucherpolitik?) und einer von Prof. Dr. Jörn Lamla vorgenommenen Zusammenfassung ausklang.


(Finanzvorstand)

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* Die vorliegende Darstellung zur Jahreskonferenz 2018 des Netzwerks Verbraucherforschung erfolgte, soweit näher auf einzelne Vorträge eingegangen wurde, unter Nutzung der Tagungsdokumentation „Transformation des Konsums – Vom industriellen Massenkonsum zum individualisierten Digitalkonsum“, herausgegeben von Bernward Baule, Dirk Hohnsträter, Stefan Krankenhagen und Jörn Lamla.


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